Das grosse Vergessen
Ehepaar auf dem Weg in eine ungewisse Zukunft (Susanne Pälmer auf Pixabay)
Simona Caratus & Sandra Lovizio
26. Juni 2019
Demenz oder Krebs?
Diese Frage stellte mir einmal jemand «Wenn Sie die Wahl hätten an Demenz zu erkranken oder Krebs zu bekommen, was würden Sie auswählen?»

Ich war zu überrascht um gleich Antworten zu können, aber ich dachte eine Weile darüber nach. Was ist besser, mich langsam in einer Art Nebel aufzulösen, mich selbst zu verlieren, meine Identität, meine Erinnerungen oder schmerzvoll aber dafür bei klarem Verstand dahinzuscheiden?

Kann ich noch in Würde den Rest meines Lebens verbringen, mich von meinen Liebsten verabschieden? Was ängstigt mich mehr, zu wissen dass ich bald sterben werde oder nicht mehr zu wissen wer ich bin und dass ich sterblich bin?

Ich kann nicht sagen, dass ich mich damals für eine Variante entscheiden konnte, aber zumindest habe ich die Angst verloren, was die Krankheit Demenz betrifft.

Ich bin ihr begegnet, ihr, der Krankheit mit so vielen Gesichtern, in allen möglichen Stadien. Menschen die vergessen und deren Angehörige. Ich habe keine Angst mehr, sondern Respekt, von so viel Mut und Stärke, so viel Ausdauer, Tränen, abgründigen Gefühlen, schmerzvollen Erfahrungen, bewundernswerter Offenheit. Ich habe verstanden, dass Vergessenheit nicht nur ein Fluch, sondern auch ein Segen sein kann. Nicht mehr zu wissen, dass man sein Kind zu Grabe trug, seinen Partner verlor, alt und krank ist und es keine Hoffnung mehr gibt...das kann ein Segen sein.

Gespräch mit einem Angehörigen einer Frau mit Demenz
Herr W. ist nicht an Demenz erkrankt, aber seine Frau. Wir nahmen sie damals als Tagesgast in der Stapfenmatt in Niederbuchsiten auf und konnten nur vermuten was die Familie im Vorfeld alles durchmachen musste. Herr W. war sehr freundlich, aufmerksam und besorgt um seine Frau. Seine Liebe zu ihr war ihm so deutlich anzusehen, dass es stets unsere Herzen berührte.

Wie alles anfing und wie es ihm dabei geht, erzählte er mir in einem persönlichen Gespräch im Mai dieses Jahres.
Herr W. schildert mir gleich zu Beginn das Ereignis welches dazu beigetragen hat, dass die Diagnose Demenz überhaupt gestellt wurde. Während der Ferien mit der jüngsten Tochter und ihrer Familie fing seine Frau spät in der zweiten Nacht an zu packen. Eigentlich war geplant eine Woche zu bleiben. Er wurde dann natürlich auch wach und fragte was sie tue. Sie meinte daraufhin, sie müsse packen, er würde ihr ja nicht helfen. Das war auch so, sie habe immer für ihn mitgepackt, das war ihr «Ressort» und habe ihn damit verwöhnt, erzählt Herr W. mit einem Lächeln.

Als er ihr sagte, «Jetzt sind wir doch erst angereist, du kannst wieder ins Bett kommen, wir gehen noch nicht nach Hause.» ging sie wieder ins Bett und schlief ein.

Diagnose Demenz

Nach den Ferien hat Herr W. versucht A. zu überzeugen, dass sie dies abklären sollten. Obschon seine Frau überzeugt war, dass das nicht notwendig sei, sind sie dann schlussendlich doch zum Arzt gegangen. Das CT bewies was Herr W. schon befürchtete. Seine Frau leidet an einer Alzheimer-Demenz.

Daraufhin hat sich Herr W. erstmals über die Krankheit Demenz informiert. Sie haben dann gemeinsam angefangen damit zu leben. Die Diagnose wurde im Jahre 2012 gestellt. Ihre Kinder waren damals schon lange ausgezogen. Als Frau W. im Jahre 2017 nachtaktiv wurde, stiess Herr W. an seine Grenzen wie er mir berichtet. Er hat damals viel zu wenig geschlafen. Für ihn war klar, dass er eine Lösung suchen musste. Er ist dann auf das Tagesangebot der GAG für Menschen mit Demenz in Niederbuchsiten aufmerksam geworden und hat fortan seine Frau immer am Dienstag als Tagesgast untergebracht. Er ist dann Jassen gegangen, das war sein freier Nachmittag.

Nachdem seine Frau dann aber vermehrt weggelaufen ist, z.B. während eines gemeinsamen Einkaufs war sie plötzlich nicht mehr auffindbar, war für Herr W. klar, dass seine Frau in einer stationären Einrichtung untergebracht werden muss.

Er erzählt mir, dass sie einen Ausflug ins Allgäu gebucht haben. Es war ihm aber klar, dass es mit seiner Frau nicht gehen würde. Er hatte Glück und es gab noch einen freien Platz im Wohnhaus für Menschen mit Demenz. Sie sind dann wie immer am Dienstag nach Niederbuchsiten gefahren. Er sagte ihr, er müsse in die Ferien. Als seine Frau darauf erwiderte «Und ich?», da sei er sich wie ein richtig feiger Hund vorgekommen. Damit hatte er nicht gerechnet, dass sie ihm diese Frage stellt. Gefahren ist er dann aber trotzdem und konnte es dann auch geniessen, dies im Wissen, dass seine Frau gut aufgehoben ist.

Eintritt ins Wohnhaus für Menschen mit Demenz
Herr W. hatte einen Vertrag auf drei Wochen mit der Option, dass seine Frau bleiben kann wenn es ihr gefällt. Nach den Ferien war für ihn klar, dass er das versuchen wollte. Die Eingliederung ist aber nicht gut gegangen. Er hat die Anweisung der Pflegenden der Stapfenmatt eingehalten, seine Frau in der ersten Zeit nicht zu besuchen. Als er sie nach drei Wochen besuchte, hatte seine Frau die Sprache verloren. Von diesem Zeitpunkt an konnte er nicht mehr mit ihr reden. Mittlerweile gefällt es ihr sehr gut. Herr W. merkt an, dass seine Frau in der Stapfenmatt Zuhause ist. Sie hat auch nie nach Hause gewollt.

Es sind beinahe 2 Jahre her, dass wir Familie W. kennenlernen durften. Ich habe lange nicht gewusst was sie durchmachen mussten. Als wir damals seine Frau stationär aufnahmen, verschlechterte sich ihr geistiger Zustand. Das ist ein normaler Prozess, Menschen mit Demenz versuchen so lange wie möglich ihre Fähigkeiten zu behalten und das strengt sie enorm an und dies verursacht Stress. Vermutlich hat seine Frau damals los lassen können, als sie in die Stapfenmatt eingetreten ist. Das passiert sehr oft, die Krankheit macht einen Schub bei dem Wechsel ins Pflegeheim. Die Bewohnenden lassen es auch zu, weil sie ein Gefühl von Normalität und Sicherheit erleben.

Frau W. hat vermutlich gespürt, dass alle anderen hier ihr ähnlich sind, dass es normal ist zu vergessen. Der Alltag wird wunderbar gestaltet, ohne dass sie ständig hören muss: «Nein, was machst du da, das habe ich dir x-mal gesagt, du hast es vergessen, so ist es nicht gut...usw.!». Sie hat wahrscheinlich wenig Neins gehört im Vergleich zu dem was sich Menschen mit Demenz üblicherweise anhören müssen.

Wir, Menschen, sagen schnell Nein, nicht weil wir böse sind, sondern weil es tief in uns verwurzelt ist, das Richtige zu tun und es uns Überwindung kostet einen mit Sirup geputzten Tisch zu akzeptieren, oder einen Mitten in der Nacht gepackten Koffer.

Das Personal wird genau auf das geschult, zu loben und zu bestätigen, weil nicht das Resultat zählt, sondern die Absicht dahinter. Sauber machen und putzen, Fleiss steht im Vordergrund, nicht der verklebte Tisch.

Woran merkt Herr W., dass sich seine Frau wohl fühlt in ihrem Zuhause? Wenn er in der Stapfenmatt ist dann merkt er, dass das Personal nicht nur fachlich gut ist, sondern es auch herzlich betreut und das spüre er.

Leben mit einem Angehörigen mit Demenz
Ich habe Herrn W. die Frage gestellt wie er nach Ausbruch der Krankheit fünf Jahre mit seiner Frau zu Hause leben konnte. Es war schon eine sehr schwierige Zeit, so Herr W. vor allem wenn man selber fast durchdreht wegen des Schlafmangels und der Patient dann auch immer anspruchsvoller wird. Es läuft nichts mehr und was vorher normal war ist nicht mehr normal. Man muss lernen zu akzeptieren. Herr W. konnte nicht sagen, jetzt habe ich dir das schon drei mal gesagt. Dann müsse es einem bewusst sein, dass es die Krankheit ist die dazu führt, aber das belastet schlussendlich trotzdem. Zum Glück hat das Reden immer noch funktioniert.

Es war auch eine schwierige Zeit weil sie eine zeitlang sogar aggressiv und dann wieder depressiv war, das hat sich abgelöst. Aber Gott sei Dank hat sich das gelegt. Für den Patienten ist es das Schwierigste wenn er noch realisiert, das mit ihm etwas nicht stimmt, das muss wohl das Schlimmste sein. Für die Angehörigen ist das Schwierigste oder das Beste zu wissen, sie ist gut aufgehoben. Das ist sie in der Stapfenmatt und darüber sind wir sehr glücklich bemerkt Herr W. begeistert.

Schuldgefühle

Ob er jemals Schuldgefühle hatte, weil er seine Frau in eine stationäre Einrichtung gegeben hat, wollte ich wissen. Nein, das habe er nicht, weil er und seine Familie gemacht haben was sie konnten. Wenn sie das Gefühl hätten, dass seine Frau nicht gut aufgehoben wäre, dann hätten sie vermutlich Schuldgefühle. Er könne jedoch nicht genug betonen, wie gut die Mitarbeitenden seine Frau und alle anderen Bewohnenden der Stapfenmatt betreuen. Was es heisst so jemanden zu betreuen und dann noch jemand Fremden und dies acht Stunden am Tag, das könne sich ein Laie nicht vorstellen. Er selber hat seine Frau fünf Jahre lang zu Hause betreut und weiss wovon er spricht.

Seine Frau besucht er an zwei Tagen pro Woche. Immer an den gleichen Tagen. Das sei für ihn und auch für seine Frau sehr wichtig, davon ist Herr W. überzeugt.

Umgang mit der Krankheit seiner Frau
Wie geht Herr W. mit der Krankheit seiner Frau um? Herr W. ist ein positiv denkender Mensch. Für ihn ist klar, es gibt noch andere Leiden im Leben und er ist dankbar, dass er und seine Frau ein Leben lang gesund waren, gesunde Kinder und gesunde Enkelkinder haben. Das sei nicht selbstverständlich. Wenn man sich dies wieder bewusst mache, dann müsse man halt auch die negativen Schicksalsschläge akzeptieren. Es sei wichtig, das Positive zu sehen. Er und seine Kinder wissen, dass es ihrer Familie gut gegangen ist, sie hatten und haben ein gutes Leben, mit Ausnahme seiner Frau. Es gehe einfacher im Leben wenn man das Schicksal akzeptiert. Wenn etwas nicht rund läuft, dann müssten wir halt das Beste daraus machen, so Herr W. überzeugt.

Rat für andere Angehörige

Anderen betroffenen Angehörigen rät er, Hilfe in jeder Beziehung anzunehmen. Er selber hat eine Putzfrau angestellt die jede Woche zwei Stunden geputzt hat. Er hatte auch jemanden von der Pro Senectute die wöchentlich zwei Stunden vorbei kam. Diese Person hat sich mit seiner Frau abgegeben, hat mit ihr die Wäsche gemacht, versucht zu bügeln, gespielt und ist mit ihr laufen gegangen. Herr W. kann diesen Service wärmstens empfehlen, für ihn und seine Frau war dies ein wahrer Segen. Wichtig sei auch, dass man nicht meint man müsse alles selber machen.

Hier finden Angehörige weitergehende Unterstützung:
Demenz verstehen – den Umgang mit der Krankheit lernen
Das SRK Bildungszentrum bietet einen Kurs «Demenz verstehen» für Angehörige an. Sie lernen im Kurs Krankheitsbilder, Symptome und Krankheitsstadien kennen. Sie sprechen über Handlungsalternativen bei herausfordernden Verhaltensweisen. Sie bearbeiten die Themen Nähe und Distanz sowie Umgang mit Belastung und eigenen Grenzen. Quelle: https://www.srk-bern.ch/de/bildung/kurse-fuer-freiwillige-und-angehoerige/

Entlastungsangebote für Angehörige Betreuende von Menschen mit Demenz
Entlastungsangebote müssen in Krisensituationen oder Situationen mit einem erhöhten Betreuungsbedarf rasch mobilisierbar sein, da sich Familien häufig mit nicht vorhersehbaren und nicht planbaren Situationen konfrontiert sehen.

Hier bieten zahlreiche Institutionen Hilfen an:
https://www.alzheimer-schweiz.ch/de/angebote/ https://www.myhandicap.ch/gesundheit/alter/demenz/entlastung-angehoerige/ https://www.prosenectute.ch/de/dienstleistungen/hilfen.html
Es ist nicht leicht, aber es ist bereichernd für und mit Menschen wie Frau W. und einfühlsamen Menschen wie ihrem Mann zu arbeiten. Seine Liebe erfüllt immer noch den Raum, wenn er zu Besuch kommt und ich bin sicher seine Frau spürt das, auch über den Nebel des Vergessens hinweg.
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