Zum Glück braucht es Bewegung
Bewegung mach glücklich (GAG)
Simona Caratus
07. Oktober 2019
Zum Glück braucht es Bewegung
Der meistgesagte Satz als Zeichen von Liebe und Fürsorge ist: «Pass bitte auf». Wenn die Tochter nach Hause fährt, wenn der Vater im Garten etwas schneidet, wenn das Kind auf seinem Velo davon rast: «Pass gut auf dich auf» schreien wir noch hinterher. Wie ein Zauberspruch soll der Satz wirken und die geliebte Person beschützen. Es hat auch was Beruhigendes an sich, zu wissen: «Ich habe es gesagt, ich habe alles getan was möglich ist, mehr kann ich nicht tun.» Das zeigt, dass uns an diesen Menschen etwas liegt und spiegelt gleichzeitig unsere Hilfslosigkeit. Wir können die geliebten Personen nicht auf Dauer beschützen, aber wir glauben, es ihnen schuldig zu sein, es zu versuchen, wenigstens mit diesem Satz.

Wie weit geht Fürsorge?
Falls wir jemals die Erfahrung machen müssen, unsere Eltern oder gar Partner in einer Pflegeeinrichtung unterzubringen, werden wir uns dabei ertappen, wie wir zu den Pflegerinnen und Pflegern sagen: «Passen Sie auf sie/ihn auf». Und sie nehmen diesen Auftrag ernst und passen gut auf… Die Fürsorge geht so weit, dass bedürftige Menschen im Rollstuhl fixiert, Bettgitter aufgesetzt, Bodenmatten gelegt und Beruhigungsmedikamente verteilt werden. Alles nur, damit die geliebte Person unversehrt bleibt. Der Körper bleibt dabei vielleicht unversehrt, aber was ist mit seinem Geist? Gefangen in einem gebrechlichen Körper. Oder umgekehrt?

Was passiert mit einem kranken Geist, gefangen in einem gesunden Körper?
Was ist mit einem kranken Geist, der nicht weiss, dass er krank ist? Für einen Menschen der an Demenz erkrankt ist, ist Demenz nur im Anfangsstadium erkennbar. Der Erkrankte merkt, dass er Kompetenzen und Fähigkeiten verliert, dass er vieles vergisst und das macht ihn unendlich traurig. Da ist der Bewegungsdrang noch nicht so präsent. Ein Mensch der traurig ist, versucht sich zurück zu ziehen. Mit der Zeit kann das Gehirn die Lücken nicht mehr mit Logik erklären, dann erwacht der Mensch aus seiner Starre und sucht nach Erklärungen. Ein Suchprozess ist extrem dynamisch und mit Bewegung verbunden.

Stellen Sie sich vor, Sie wachen morgens auf und wissen nicht wo Sie sich befinden. Anfangs, warten Sie vielleicht ein paar Sekunden und versuchen sich zu erinnern . Und jetzt stellen Sie sich vor, es gelingt Ihnen nicht. Was machen Sie als Nächstes? Spüren Sie schon ein wenig Angst, die sich im Bauch ausbreitet, wie verscheuchte Hühner? Was machen Sie jetzt? Sie laufen los, oder? Auf der Suche nach Antworten, Sie öffnen eine Tür, dann die nächste und die nächste und dabei fragen Sie wahrscheinlich jeden der Sie auf Ihrer Suche antreffen: «Hallo, wo bin ich?».

Wir spielen folgendes Szenario durch: Niemand beantwortet Ihre Frage, Sie werden ignoriert. Können Sie die Angst spüren, die jetzt von der Bauchgegend in Ihre Brust aufsteigt? Die Schritte werden schneller. Die nächste Person die Sie antreffen ignoriert Sie nicht, meint aber, es sei alles in Ordnung, Sie müssen nur mitkommen und sich ruhig hinsetzen. Ganz ehrlich, reicht diese Aussage um Ihre Angst zu bändigen? Von wegen, jetzt geht es erst richtig los. Eine andere Person, die Ihnen ebenfalls entgegen kommt meint: «Sie sind im Pflegeheim, wissen Sie, Sie wohnen hier!» Das soll Sie beruhigen? Ich wette mit Ihnen, jetzt sind es keine Hühner mehr in Ihrem Bauch, sondern eine Klaue die nach ihrem Herz greift.

Hauptsache kein Kratzer

Es kann sogar sein, dass jemand auf die Idee kommt Sie wieder ins Zimmer zu begleiten und an einem Stuhl festzubinden, oder in Ihrem Bett, damit Sie sich ja nicht verletzen, weil Sie durch die Gänge und im Treppenhaus so unruhig herumschwirren. Was passiert jetzt mit Ihnen? Ein Orkan an Empfindungen wird in Ihnen wüten und Sie innerlich verwüsten. Klar, der innere Sturm ist unsichtbar für Ihre Mitmenschen, wir sind schliesslich, als Pflegende, auf äusserliche Verletzungen stark fokussiert: Hauptsache kein Kratzer, nicht wahr?

Irgendwann kommt die richtige Person die zu Ihnen sagt: «Hallo Herr/Frau… so und so… Sie haben sich verlaufen, Sie sind ganz aufgebracht und wissen nicht mehr weiter»… Und so wird es Ihnen langsam warm ums Herz. Es versteht Sie endlich jemand und die Suche hat ein Ende.

Freiheit
Menschen mit Behinderungen, Menschen mit Demenz, Menschen mit Bedürfnissen, alle wollen nur eines, so lange wie möglich frei bestimmen und sich frei bewegen können, denn das ist menschlich. Leben heisst Bewegung und macht glücklich.
Ein Mensch, der an Demenz erkrankt ist, wird ständig auf der Suche nach Antworten sein und sich deswegen ständig in Bewegung befinden, wenn sein Körper ihr/ihm das erlaubt. Das haben wir in der GAG erkannt und deswegen dürfen unsere Bewohnenden in den Wohngruppen schlafen solange sie möchten, essen wann sie wollen und sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten frei bewegen. Wir sind darauf geschult die unsichtbaren Stürme zu erkennen, oder noch besser zu vermeiden. Gesunder Menschenverstand ist gefragt, wie schützen wir unsere Bewohnenden, wie schenken wir ihnen die Freiheit? Mit dieser Frage sind wir andauernd konfrontiert. Um Antworten zu finden braucht es eine gute Kommunikation im Team und mit den Angehörigen.

Ein Stolpern bringt einen Mensch vielleicht ins schwanken, aber nicht sein Glück.

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