Der Schuh im Kühlschrank
Was hat der Schuh im Kühlschrank zu suchen? (GAG)
Simona Caratus
25. Juli 2019
Ein Schuh im Kühlschrank zu verstauen, eine Schublade als Mülleimer zu verwenden, Plastikblumen mit Wasser zu giessen, Kartoffelsalat ins Trinkglas zu schöpfen oder Erbsen und Möhren auf dem Teller farblich zu trennen, dies sind nur einige Beispiele wie ich sie des Öfteren erlebe.

«Sein oder nicht sein» ist bei uns nicht die Frage, sondern was ist «normal» und was nicht.

Sie würden staunen, aber bei uns hat der Schuh im Kühlschrank tatsächlich seine Berechtigung. Denn irgendjemand hat sich etwas dabei überlegt als er/sie diesen Schuh im Kühlschrank verstaut hat. Es hat etwas mit Ordnungssinn zu tun, und das muss man loben und bestätigen. Weil nicht das Resultat zählt, sondern die Absicht dahinter und die war mit Sicherheit gut gemeint.

Was ist schon normal?
Die Arbeit in den Wohngruppen für Menschen mit Demenz orientiert sich am Normalitätsprinzip, das klingt alles wunderbar einfach, oder? Aber was ist schon normal?

Hat das «Normal» sein mit richtig oder falsch zu tun? Eher weniger. Was für mich richtig ist, kann für Sie falsch sein. Was nun?

Geht es um das «Normale» aus Sicht von uns Betreuenden oder aus Sicht der/des Betreuten, oder gar ihrer Angehörigen? Richten wir uns nach dem was früher der Norm entsprach, oder nach dem was Heute als normal gilt? Weder noch.

Normalität ist das, was wir tagtäglich immer wieder auf unterschiedliche Art erleben. Das Erlebte vermittelt uns ein Gefühl von Sicherheit, Geborgenheit, zu Hause und am richtigen Ort zu sein. Jeder Bewohnende braucht ein ähnliches oder sogar komplett anderes Erlebnis um die Normalität als solche wahrnehmen zu können.

Wie sieht das aus bei einem Menschen mit Demenz? Seine Gefühle sind intakt, seine Antriebe (Fleiss, Pflichtgefühl, Ordnungssinn, usw.) sind vorhanden, nur seine Handlungen leiden darunter. Ein Mensch der einen Schuh im Kühlschrank verstaut will einfach nur aufräumen. Das der Kühlschrank nicht zum Schuh passt oder umgekehrt, das kann er durch die Demenz nicht mehr unterscheiden. Deswegen müssen wir unsere Bewohnenden und ihre Handlungen durch Lob bestätigen, damit sie wissen, dass das was sie machen gut und richtig ist, auch wenn es aus unserer Sicht nicht der Normalität entspricht. Denn Normalität wie wir sie kennen, können wir normalerweise auch problemlos meistern.

«Das grosse Vergessen», wie ich die Demenz manchmal nenne, fühlt sich vermutlich zeitweise an, wie ein Tanz der Gedanken, zwei Schritte nach links, einer nach rechts, hin und her, immer neu, ein wechselnder Rhythmus von Licht und Schatten. Wer soll da mithalten können?

Wo bin ich?
Das Licht geht an und ich weiss nicht wo ich bin, das passiert mir oft, Geduld muss ich haben. Dann öffnet sich die Türe und eine nette Dame kommt herein, begrüsst mich und …so schön wie sie meinen Namen ausspricht, fällt mir auch wieder ein wer ich bin.

Wo ich mich befinde weiss ich allerdings immer noch nicht, aber jetzt kann ich fragen:
«Hallo, wo bin ich?» Die Dame versichert mir, dass alles in Ordnung ist und ich jetzt aufstehen kann wenn ich will: «Will ich aufstehen?» Das Bett fühlt sich warm und gemütlich an. «Warum soll ich aufstehen», höre ich mich fragen? Die Dame erzählt mir etwas von Morgenessen und Kaffee... oh ja, Kaffee wäre jetzt genau das Richtige aber...«Wo bin ich?» Ich höre wie die Dame mir wieder erklärt, dass ich im Bett bin und ich entscheide mich spontan hier zu bleiben. Ich wüsste nicht was ich sonst tun sollte.

«Hallo?» das war wieder ich, aber ich weiss nicht was ich will. Ich weiss vieles nicht und langsam bekomme ich Angst. Das Zimmer ist mir fremd, das Bett kenne ich, aber die komische Kommode da in der Ecke, woher kommt die? Ach, das Bild mit Susi und Rolf. Die kenne ich doch! So schön, also bin ich doch zu Hause. Wer war die Frau vorhin? Sie kann mir sicher weiterhelfen: «Hallo, Hallo»

«Ja, Frau M., sie sind eine fleissige, eine richtige Frühaufsteherin! Kommen Sie, ich begleite sie ins Bad!» Das ist nett von ihr und sie hat gemerkt, dass ich fleissig bin. So jetzt laufen wir zusammen ins Bad.

Lasst mich raus!
«Das sind meine Kinder», sage ich und zeige auf das Bild. Die Dame meint ich wäre eine gute Mutter. Sie scheint mich zu kennen. Mutter, Kinder,... «Wo sind meine Kinder?» und «Wo bin ich?» Sie sagt mir, das alles in Ordnung ist und ich mir keine Sorgen machen muss. Aber «Wo bin ich?» Es kann doch nicht in Ordnung sein. Etwas stimmt hier nicht. Und Papi erst, wer kocht für ihn? «Sie warten alle auf mich, ich muss nach Hause. Ach Du meine Güte.» «Hallo, ich will nach Hause zu meinen Kindern! Sie brauchen mich! Mein Papi ist auch alleine und braucht etwas zu essen!»

Sie sagt etwas von Kaffee und essen... ja aber sie versteht nicht, dass ich jetzt keine Zeit mehr habe. «Ich will hier raus!!!! Machen Sie die verdammte Tür auf! Ich nehme den Bus! Es ist nicht kalt! Lassen Sie mich gehen!!!!»

Die Frau sagt mir, dass ich mich hinsetzen und etwas essen soll. Die ist nicht ganz dicht, ich muss doch weg, sofort. «Hilfe, Hilfe, sie lassen mich nicht raus! Die Dame hier hält mich fest!»

Da kommt eine andere Frau, ihr Gesicht kommt mir bekannt vor, aber ich weiss nicht wer sie ist. «Ach, Frau M., sie sind ja richtig aufgebracht! Sie wissen gar nicht mehr wie es weiter gehen soll, oder?» Endlich, sie versteht mich! «Ja, ich will doch weg! Meine Kinder die kommen gleich aus der Schule und Papi muss etwas essen!»

«Frau M. sie wollen nur das Beste für ihre Kinder und ihren Papi, das verstehe ich! Wenn die Pflicht ruft, dann ist Frau M. parat...»

«Ja ja, so ist es, los los , machen sie die Tür auf!»

«Frau M., ich verstehe Sie, Sie haben keine Geduld mehr. Sie sind gerade sehr aufgebracht!»

«Was Sie nicht sagen!» Ja, sie versteht mich, endlich….

Mit dem Pyjama auf die Strasse

«Ich helfe Ihnen gerne Frau M., kommen sie mit mir. Eine Frau wie sie mit Stil und Etikette kann nicht im Pyjama losgehen...»

Ach, die neue Dame versteht mich, die kennt mich gut….schnell anziehen also. Wir laufen zusammen nach oben ins Zimmer. Sie erzählt mir einiges über mich was ich als Damenschneiderin alles mache und wie gut ich darin bin, das ist so schön.
Ja, ich bin eine gute Schneiderin, sie zeigt mir meinen Korb mit den Nähutensilien und ich erinnere mich an so viele schöne Sachen die ich selber gemacht und erlebt habe.

Wir reden weiter…so schön…ich bekomme ein Gipfeli, das ist doch nett….

«Hallo?» – ein Schatten war da gerade in meinem Kopf, aber husch ist er schon wieder weg, irgendwas wollte ich noch… Ach ja, mein Kaffee ist da….

Die Gedanken drehen sich weiter im Takt, und die Normalität ist wieder da, alle sitzen am Tisch und der wechselnde Rhythmus begleitet uns durch den Tag, zwei Schritte nach links, zwei oder drei nach rechts..

Loben nicht vergessen: «Das haben Sie gut gemacht, Frau M.»

Haben auch Sie schon solche Erfahrungen gemacht mit Angehörigen/Bekannten/Freunden? Wie sind Sie damit umgegangen? Schreiben Sie uns, wir freuen uns über jeden Kommentar!
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